Kündigt ein Arbeitgeber einem Mitarbeiter und stellt er ihn trotz dessen Beschäftigungsanspruchs von der Arbeit frei, unterlässt der Arbeitnehmer in der Regel nicht böswillig im Sinne des § 615 Satz 2 BGB anderweitigen Verdienst, wenn er nicht schon vor Ablauf der Kündigungsfrist ein anderweitiges Beschäftigungsverhältnis eingeht. Entsprechend kann es dem Mitarbeiter auch nicht vorgeworfen werden, wenn er sich aufgrund eines laufenden Kündigungsschutzverfahrens zunächst nicht auf andere Stellen bewirbt und somit keinen Zwischenverdienst bei einem anderen Arbeitgeber erzielt.
Zum rechtlichen Hintergrund: Arbeitgeber, die einem Mitarbeiter ordentlich kündigen, sind dazu verpflichtet, den Lohn bis zum Ende der Kündigungsfrist weiterzuzahlen – auch wenn sie den Arbeitnehmer von der Arbeit freistellen. Gemäß § 615 Satz 2 BGB gilt: Hat der Mitarbeiter vor Ablauf der Kündigungsfrist eine neue Beschäftigung angenommen oder die Annahme einer neuen Beschäftigung böswillig unterlassen, muss er sich den erzielten Verdienst bzw. den fiktiv erzielten Verdienst anrechnen lassen.
Im vorliegenden Fall kündigte ein Arbeitgeber einem Mitarbeiter Ende März 2023 und stellte ihn bis zum Ende der Kündigungsfrist am 30. Juni 2023 unwiderruflich von der Arbeit frei. Nach dem Zugang der Kündigung meldete sich der Arbeitnehmer Anfang April 2023 arbeitssuchend - und reichte Kündigungsschutzklage ein. Von der Arbeitsagentur erhielt der Mitarbeiter erstmals Anfang Juli Vermittlungsvorschläge. Sein Arbeitgeber schickte ihm hingegen schon im Mai und Juni 2023 insgesamt 43 Online-Stellenangebote. Auf einige der Angebote bewarb sich der Freigestellte, allerdings erst ab Ende Juni 2023.
Nachdem der Ex-Arbeitgeber dem Mitarbeiter für Juni 2023 keine Vergütung mehr gezahlt hatte, klagte dieser die Zahlung ein. Der Arbeitgeber war der Meinung, der Arbeitnehmer sei verpflichtet gewesen, sich während der Freistellung zeitnah auf die ihm bekannt gegebenen Stellenangebote zu bewerben. Weil er dies unterlassen habe, müsse er sich für Juni 2023 nach § 615 Satz 2 BGB fiktiven anderweitigen Verdienst in Höhe des bislang bezogenen Gehalts anrechnen lassen. Das BAG gab jedoch der Zahlungsklage des Klägers Recht.
Nach Ansicht des BAG ist eine fiktive Anrechnung nicht erworbenen Verdienstes nur dann gerechtfertigt, wenn sich der Arbeitnehmer entgegen Treu und Glauben keinen neuen Job gesucht hat. Der Umfang der Verpflichtung des Arbeitnehmers zu anderweitigem Erwerb kann nach BAG-Auffassung nicht losgelöst von den Pflichten des Arbeitgebers beurteilt werden. Der Arbeitgeber habe im vorliegenden Fall nicht dargelegt, dass ihm die Erfüllung des aus dem Arbeitsverhältnis resultierenden, auch während der Kündigungsfrist bestehenden Beschäftigungsanspruchs des Klägers unzumutbar gewesen wäre. Ausgehend hiervon war der Mitarbeiter nach Ansicht des BAG nicht verpflichtet, schon vor Ablauf der Kündigungsfrist zur finanziellen Entlastung des Arbeitgebers ein anderweitiges Beschäftigungsverhältnis einzugehen und daraus Verdienst zu erzielen.
Urteil des BAG vom 12. Februar 2025, 5 AZR 127/24