Grundlegend muss zwischen adaptiver und destruktiver Parentifizierung unterschieden werden. Die adaptive Parentifizierung steht für die positive Entwicklung eines Kindes hin zu mehr Selbstständigkeit. Denn natürlich ist es toll, wenn ein Kind beispielsweise im Haushalt immer mehr altersgerechte Aufgaben übernimmt oder hin und wieder altersgerechte Verantwortung für jüngere Geschwister trägt. Seine Entwicklung wird hierbei also gefördert und nicht verhindert.
Was bedeutet destruktive Parentifizierung?
In der Regel ist mit Parentifizierung die destruktive Form gemeint. Der Begriff Parentifizierung (Verelterlichung) kommt aus dem Lateinischen: „Parentes“ (Eltern) und „facere“ (machen) und steht für eine durch die Eltern auf das Kind übertragene elterliche Rolle. Bei der destruktiven Parentifizierung muss das Kind Aufgaben übernehmen, zu denen die Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht (mehr) in der Lage sind. Hierbei handelt es sich um Aufgaben, die das Kind nicht übernehmen dürfte und die ihm schaden. Körperlich und seelisch. Es erfolgt also eine schädliche Umkehrung der Verhältnisse zwischen Eltern und Kind.
Es gibt zwei Formen der destruktiven Parentifizierung:
Instrumentelle Parentifizierung
Das Kind muss Aufgaben übernehmen, für die es noch zu jung ist und für die es kaum bis kein Lob und keinen Ausgleich bekommt.
Beispiele:
- Tätigkeiten im Haushalt
- Einkäufe/Kochen
- Behördengänge bzw. bei Behördengängen übersetzen, weil die Eltern die erforderliche Sprache nicht sprechen.
- Sich intensiv und regelmäßig um Geschwister oder andere Familienmitglieder kümmern.
Emotionale Parentifizierung
Das Kind wird von den Eltern emotional überfordert, manchmal auch erpresst und regelmäßig in Konflikte, Streitigkeiten und wichtige Entscheidungen involviert.
Beispiele:
- Kind wird in Konflikte zwischen den Eltern hereingezogen.
- Kind soll vermitteln oder schlichten.
- Kind soll sich zwischen den Eltern entscheiden beziehungsweise sich gegen ein Elternteil verbünden (Triangulation). Es wird damit immer in einen Loyalitätskonflikt gebracht.
- Kind wird als beste*r Freund*in, Therapeut*in, Coach oder Partnerersatz gesehen und erfährt dabei Dinge, die es emotional überfordert. Aus Angst, die emotionale Bindung zu den Eltern zu verlieren, übernimmt das Kind dann häufig auch körperliche Aufgaben, um die Bindung zu erhalten und zu stärken. Als Partnerersatz muss es zudem die Aufmerksamkeit und Liebe ausgleichen, die der Elternteil auf partnerschaftlicher Ebene vermisst.
Ein Beispiel, bei dem sich instrumentelle und emotionale Parentifizierung vermischen:
Die neunjährige Liesa sieht ihre Mutter weinend in der Küche. Sie weiß, was jetzt zu tun ist. Mama hat sich wieder mit Papa gestritten und braucht wie so oft ihren Trost: „Dein Vater macht einfach nichts im Haushalt und um dich und deine Schwester kümmert er sich auch nicht. Ich schaff das alles nicht mehr allein. Ich packe jetzt meine Koffer und komme nicht wieder." Ein wenig später sitzt die Mutter weinend auf der Flurtreppe, neben ihr der gepackte Koffer. Liesa hat Angst, dass ihre Mutter für immer gehen könnte, fängt ebenfalls an zu weinen, setzt sich neben sie und umarmt ihre Mutter. Aus der Verzweiflung heraus schlägt Liesa wieder eine gemeinsame Aussprache mit dem Vater vor. Dann beginnt die Neunjährige mit dem Großputz: „Meine liebe und fleißige Tochter", sagt die Mutter. Eigentlich wollte Liesa ihrer Mutter sagen, dass sie oft Angst davor hat, schlechte Noten zu schreiben. Dabei ist sie meist sehr gut in der Schule. Die Angst verdrängt sie jetzt wieder. Und auf das Treffen mit einer Freundin hat sie plötzlich auch keine Lust mehr, weil die immer so albern ist. Liesa hat jetzt Wichtigeres zu tun: Sie muss ihre Mutter glücklich machen, damit sie die Familie nicht verlässt.
Warum kommt es zur Verelterlichung?
Die Verelterlichung findet aus einer Not heraus statt. Eltern entscheiden sich nicht bewusst dafür, in ihrem Kind eine Haushaltshilfe, Therapeut*in oder beste*n Freund*in zu sehen. Diese Rollenumverteilung geschieht, weil die Eltern aus unterschiedlichen Gründen mit ihrem Leben und ihrer Verantwortung überfordert sind. Häufig haben sie selbst in ihrer Kindheit Vernachlässigung erfahren oder mussten sich stark anpassen. Haben sie sich beispielsweise in früher Kindheit von ihren Eltern nicht geliebt gefühlt und dadurch Verlustangst entwickelt, ist es möglich, dass sie dadurch als erwachsene Person bei ihren Kindern die Sicherheit und Liebe suchen, die sie früher nicht bekommen haben. Durch die Parentifikation ihrer Kinder können sie diesen Mangel ein Stück weit ausgleichen, schaffen dadurch allerdings ein neues Missverhältnis, indem sie den Mangel auf ihre Kinder verlagern. Weitere Ursachen können unter anderem Drogen- und Alkoholmissbrauch oder die Trennung vom anderen Elternteil sein.
Parentifizierung ist Kindesmissbrauch
Auch wenn Eltern unbewusst aus der Not heraus handeln, funktionalisieren sie ihr Kind, um die eigenen Bedüfnisse zu erfüllen. Das Kind leidet still und gibt alles, um der Verelterlichung gerecht zu werden, weil es sich für das Glück der Eltern verantwortlich fühlt und nach Liebe, Aufmerksamkeit und Halt sucht.
Eltern-Kind-Beziehung wirkt meist harmonisch
Tückisch ist auch, dass viele Kinder, die Parentifizierung erfahren, sehr stark oder gar unerschütterlich und eloquent wirken – dies ist allerdings nur eine „Pseudo-Reife“. Auch wirkt die Eltern-Kind-Beziehung bei ihnen oft sehr innig und harmonisch. Zudem spüren parentifizierte Kinder auch oft ein Gefühl von Macht, das allerdings immer wieder von Versagens- und Verlustängsten abgelöst wird. Ihre Überlebensstrategie: Von außen die Aufgaben zu balancieren und von innen auszuhalten: „Wenn ich xy aushalte, mache ich Mama/Papa glücklich und bekomme Liebe und Aufmerksamkeit. Mache ich xy nicht, enttäusche ich meine Eltern, bin ich nicht liebenswert und die Verhältnisse werden schlimmer."
10 Aussagen, die eure Kinder glücklich machen
Welche Folgen kann Parentifizierung haben?
Parentifizierte Kinder haben keine glückliche und gesunde Kindheit. Dazu hätten sie bedingungslose Liebe und Aufmerksamkeit erfahren müssen. Stattdessen haben sie gelernt: Nur wenn ich etwas leiste und mich zu 100 Prozent auf meine Eltern und ihre Bedürfnisse einstelle, bin ich liebenswert und werde gesehen. Natürlich bleibt diese Anpassungs- beziehungsweise Überlebensstrategie in der Regel nicht folgenlos.
Häufige Muster parentifizierter Kinder
Probleme, Bedürfnisse und Grenzen zu kommunizieren
Betroffene haben nie oder selten gelernt, ihre Bedürfnisse, Grenzen und Wünsche zu bemerken, geschweige denn, sie zu kommunizieren und für sie einzustehen. Diese Problematik zieht sich häufig wie ein roter Faden durch ihr Leben und wirkt sich beispielsweise auf Freundschaften, Partnerschaften und Berufsleben aus. Die Angst ist einfach zu groß, dass sie, wenn sie Grenzen und Bedürfnisse wahrnehmen und aussprechen, Ablehnung erfahren, verlassen werden oder ihr Ansehen verlieren.
Fungieren als Vermittler*innen
Zudem haben die Personen meist ein großes Verpflichtungsgefühl anderen gegenüber. Sie wollen für andere da sein und mischen sich oft in Konflikte ein, um dort als Vermittler*innen zu fungieren. Auch haben sie einen großen Sinn für Gerechtigkeit und empfinden schnell Schuldgefühle, wenn sie einen Konflikt nicht lösen können. Dabei erspüren sie meist wieder nicht, welche Bedürfnisse sie selbst gerade haben und machen stattdessen andere Probleme und Bedürfnisse zu ihren eigenen. Auch wieder aus der Angst heraus, Menschen in ihrem Leben zu verlieren oder nicht genug für die Beziehung geleistet zu haben. Parentifizierte Personen werden daher oft zu People Pleasern.
Krankmachender Perfektionismus
Perfektionismus spielt ebenfalls eine große Rolle bei Betroffenen. Da sie lange Liebe und Aufmerksamkeit nur durch Leistung bekommen haben, verspüren sie permanent einen hohen Leistungsdruck. Ein Teufelskreis, der das Nervensystem chronisch überfordert.
Mögliche Symptome und (Spät-)Folgen der Parentifizierung
Die Folgen der Parentifizierung wirken oft bis ins Erwachsenenalter.
Mögliche Symptome und (Spät-)Folgen:
- Verhaltensauffälligkeiten: zum Beispiel wenig soziale Kontakte, wenig Lust zu spielen, Verlust von Unbeschwertheit
- geringes Selbstwertgefühl
- Einsamkeit und fehlendes Urvertrauen
- Selbstaufgabe (People Pleasing)
- körperliche Beschwerden
- Parentifizierung der eigenen Kinder
- Perfektionismus, Burnout
- Misstrauen anderen Menschen gegenüber
- Angststörungen und Traumata (u. a. Trennungs-, Verlust-, Bindungs- und Versagensängste)
- Essstörungen
- Depressionen
- Drogen- und Alkoholabhängigkeit
- Große Wut, wenn ihnen die Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren sind, bewusst werden.
- Suizidale Gedanken/Suizid
Parentifizierung auflösen
- Versucht, das Ruder wieder selbst in die Hand zu nehmen und Verantwortung für euch und euer Kind zu übernehmen. Und ganz wichtig: Ihr müsst es nicht allein schaffen, sondern könnt euch therapeutische Hilfe suchen. Um eurem Kind die bestmögliche Unterstützung zu geben, aber auch, um die eigenen Wunden und Schatten (der Kindheit) aufarbeiten zu können. So habt ihr alle die besten Chancen, um zu heilen.
- Wird die Parentifizierung bereits im Kindes- oder Jugendalter bemerkt und mit therapeutischer Hilfe aufgelöst, stehen die Chancen gut, dass keine Spätfolgen entstehen. Viele Betroffene spüren aber leider oft erst als Erwachsene und aufgrund seelischer und sozialer Probleme, dass sie leiden. Auch hier sollte therapeutische Hilfe in Anspruch genommen werden - damit alte Wunden heilen und keine neuen entstehen.